Vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten flohen Juden auch nach Albanien. Das kleine Land schützte sie, weil seine Bewohner sich dem uralten Kodex der Gastfreundschaft verpflichtet fühlten.
Als im September 1943 die Wehrmacht ihre italienischen Verbündeten entwaffnete und zu Militärinternierten machte, geriet auch ein Land unter deutsche Herrschaft, das sich bis dahin Hitlers Zugriff weitgehend hatte entziehen können: Albanien. Das erst 1912 gegründete Königreich war im April 1939 von Mussolini besetzt worden. Seine Krone trug seitdem Viktor Emanuel III. von Italien. Gleichwohl wurde es zur Zuflucht von Tausenden Juden vor den Häschern des Dritten Reiches.
Eine von ihnen war Johanna Neumann. Sie wurde 1930 in Hamburg geboren. Sieben Jahre später entschlossen sich die Eltern zur Flucht. Mit dem Zug kam die Familie nach Italien, ein Schiff brachte sie nach Albanien. Dessen König Ahmet Zogu war wie die Mehrheit seiner Untertanen Muslim. „Wir wurden mit offenen Armen empfangen und hatten albanische Freunde“, sagt Johanna Neumann, die heute in Washington D.C. lebt.
Schon damals war Albanien faktisch ein italienisches Protektorat und das rückständigste Land Europas. Es verfügte über keine Eisenbahnen und nur über wenige hundert Kilometer befestigte Straßen, kaum Telegrafenverbindungen und eine Handvoll weiterführende Schulen. Nachdem Hitler die „Rest-Tschechei“ seinem Großdeutschen Reich einverleibt hatte, befahl Mussolini den Einmarsch, um seine Position gegenüber dem Achsenpartner zu stärken.
Das Römische Imperium stand dem faschistischen Diktator auch vor Augen, als er 1940 Griechenland angriff. Der Krieg wurde allerdings zu einem Desaster. Die schlecht gerüstete griechische Armee schlug die Italiener nicht zur zurück, sondern konnte sogar zum Gegenangriff übergehen. Hitler musste daraufhin sein „Unternehmen Barbarossa“ gegen die Sowjetunion verschieben und ließ im April 1941 in einem Blitzkrieg Jugoslawien und Griechenland erobern. Um das Kosovo und weitere Teile Jugoslawiens und Griechenlands erweitert, wurde Albanien zu „Großalbanien“ unter italienischer Verwaltung.
Eine Tugend namens „besa“
Bis zum Sturz Mussolinis und der deutschen Machtübernahme im September 1943 konnten sich die Juden, die sich auf das Gebiet des Königreichs Albanien hatten retten können, einigermaßen sicher fühlen. Neben den rund 2000 Flüchtlingen lebten nur 300 einheimische Juden in dem Land. Doch anders als in anderen NS-Satellitenstaaten wie Kroatien, wo neben Serben auch Juden blutig verfolgt wurden, blieben sie in Albanien unbehelligt.
Das hing zum einen mit der religiösen Vielfalt des Landes zusammen, das bis zu seiner Unabhängigkeit unter osmanischer Herrschaft gestanden hatte. Gut die Hälfte der Bevölkerung waren Muslime, hinzu kamen im Norden eine starke katholische und im Süden eine orthodoxe Christenheit.
Alle Albaner beriefen sich auf „Kanun“, den albanischen Ehrenkodex, der mündlich von Generation zu Generation überliefert wurde. Zu diesem Kodex gehört eine Tugend, die auf Albanisch „besa“ heißt. Es gehörte sich ganz einfach, einen Fremden bei sich aufzunehmen und ihm zu helfen, auch unter Einsatz des eigenen Lebens. Wer einen notleidenden Fremdling ausgeliefert hätte, der wäre ehrlos gewesen.
Spätestens nachdem die Deutschen die italienische Verwaltung abgelöst hatten, war die „besa“ gefordert. Zunächst wurde Johanna Neumanns Familie in einer Moschee untergebracht, anschließend zog sie von Versteck zu Versteck. Später nahm sie eine muslimische Familie bei sich auf. Während der Vater in einem Bauernhaus auf dem Land versteckt wurde, lebten Johanna und ihre Mutter bei den Gastgebern. Wenn deutsche Soldaten vorbei kamen, hatte die aus Deutschland stammende Hausherrin eine Ausrede parat: „Wir wurden immer als ihre Familie vorgestellt, die aus Deutschland zu Besuch war“, sagt Johanna Neumann. So erging es vielen Juden. Andere wurden in Krankenhäusern oder Typhus-Stationen untergebracht.
Die SS-Division „Skanderbeg“
Im Kernalbanien kam hinzu, dass weite Teile des Landes von Partisanen kontrolliert wurden und die Bevölkerung bereits gegen die italienischen Besatzungstruppen Widerstand geleistet hatte. In den zugeschlagenen Gebieten war das anders. Dort erfreute sich die italienische Verwaltung sogar einer gewissen Sympathie, weil sie den Anschluss an das Königreich bewerkstelligt hatte.
Nach der deutschen Besatzung konnte die SS sogar daran gehen, eine albanische Truppe zu rekrutieren, die 21. Waffen-Gebirgs-Division, benannt nach dem albanischen Nationalhelden „Skanderbeg“. Mit 6500 einheimischen Soldaten hielt sich der Zulauf zwar in Grenzen. Aber die Truppe erwies sich als williger Vollstrecker im Partisanenkampf und beim Völkermord.
So meldete die Division im April 1944, dass sie in Pristina 300 Juden verhaftet habe. Zwischen Mai und Juni wurden 510 „Juden, Kommunisten, Partisanen und verdächtige Personen“ festgenommen, von denen die Hälfte in die Vernichtungslager der Nazis deportiert wurde. Vor allem aber gingen die albanischen SS-Leute gegen Serben im Kosovo vor, ein Vorgang, der zuletzt im Streit um Zugehörigkeit und Status des Gebiets von serbischer Seite ins Feld geführt wurde.
Die Juden innerhalb der Grenzen des Königreichs Albanien überlebten Krieg und Holocaust. Dass ihre Geschichte erst jetzt bekannt wird, hat einen Grund. Der heißt Enver Hoxha. Der langjährige KP-Chef verwandelte Albanien in eine besonders groteske Variante der stalinistische Diktatur, die bis zu ihrem Sturz Anfang der 1990er-Jahre von der Außenwelt abgeschnitten war. Seitdem hat die israelische Gedenkstätte Yad Vashem 69 Albaner als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Sie sind Beispiele dafür, dass die aktuellen Verwerfungen zwischen Muslimen und Juden nicht naturgegeben sind.